2022-08-12_Sarah Bernhardt_Erschöpfung gleich Störung?

Erschöpfung gleich Störung? – Sarah Bernhardt

12.08.2022, 19:30 Uhr: 

Erschöpfung stört. Als individuelle Erfahrung erdrückt sie diejenigen, die unter ihr leiden, dominiert ihren Alltag, beeinflusst soziale Beziehungen, Selbst- und Weltverhältnisse. Als medizinisches Krankheitsbild wird sie häufig den sogenannten funktionellen Störungen zugeordnet, die auf keine mit den Methoden der Medizinwissenschaft messbaren organischen Dysfunktionen zurückzuführen sind. Als gesellschaftliches Massenphänomen ist sie ein Störfaktor im System der hochorganisierten Arbeitsteilung, weil sie die alte Formel Arbeit ist Leistung pro Zeit unterwandert und die individuelle Leistungsfähigkeit zu einer unberechenbaren Größe macht. Es ist daher kaum überraschend, dass Erschöpfungskrankheiten gemeinhin als Ausdruck sozialer Pathologien in kapitalistischen Gesellschaftsformationen verstanden werden und deutlich abzugrenzen sind von den Müdigkeitsphänomen vormoderner Zeiten.

Gemeinsam setzen wir uns mit der Geschichte der Erschöpfungskrankheiten seit 1900 auseinander, tauchen ein in die Bilderwelten, die der öffentliche Diskurs zu Erschöpfung, Stress und Burnout seit der Wende zum 21. Jahrtausend bereithält und fragen uns: Ist es überhaupt angemessen, Erschöpfungsreaktionen als Störungenzu deklarieren? Oder handelt es sich dabei nicht vielmehr um das folgerichtige Echo auf übersteigerte Anforderungsprofile des Spätkapitalismus?

Zur Person

Sarah C. Bernhardt hat Geschichte, Philosophie und Literaturwissenschaften studiert und sich mit einer (bislang noch unveröffentlichten) Arbeit über die Formen der Erschöpfung in der Moderne promoviert. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neueste Geschichte der Johanes Gutenberg-Universität Mainz ab Herbst 2022 im Rahmen eines Postdoc-Projekts zur Geschichte des Goethe-Instituts aus transnationaler und postkolonialer Perspektive.